Seit 1. November 2024 können Ärztinnen und Ärzte Blankoverordnungen für die Physiotherapie bei ausgewählten Schulter-Diagnosen ausstellen. Wie hat sich die neue Regelung in den ersten Monaten bewährt? Spielen die Ärzte mit? Welche Vorteile hat die Blankoverordnung für Patientinnen und Patienten, und wie lässt sie sich in der Praxis optimal umsetzen? Die Inhaberin einer großen Physiopraxis berichtet von ihren Erfahrungen: zufriedene Patienten, bessere Kommunikation mit Ärztinnen und Ärzten, aber auch mehr Aufwand für die Praxis.

Der Start der Blankoverordnung in der Physiotherapie lief reibungsloser als erwartet. Schließlich hatten die Berufsverbände, Abrechnungsdienstleister und Gerätehersteller wie die PHYSIOMED GROUP ihre Mitglieder und Kunden vorab mit umfangreichen Informationen versorgt. So waren die meisten am 1. November 2024 gut für die neue Ära gewappnet. „Die wichtigste Erfahrung der ersten Monate ist, dass die Blankoverordnung bei den Patienten extrem gut ankommt”, sagt Wiebke Schandelle, Inhaberin des Physiotherapie-Zentrums GETICS in Düsseldorf. Mit ihrer langjährigen Expertise unterstützt sie das proxoconsult-Team bei Schulungen zu diesem komplexen Thema. „Die Patientinnen und Patienten sehen für sich viel größere Therapiechancen, weil wir individueller und flexibler für jeden Einzelnen planen können und nicht mehr an die starren Verordnungen von 6 mal 20 Minuten gebunden sind.”
Physios und Ärzte müssen auf Augenhöhe kommunizieren
Dreh- und Angelpunkt der gelingenden Therapie nach Blankoverordnung ist die Kommunikation zwischen Physiopraxen und Ärzten. Allerdings zeigte sich noch kurz vor Einführung der neuen Regelung, dass viele Ärzte nur dürftig informiert waren. „Manche hatten zwar mitbekommen, dass es da was Neues gibt, waren aber weit davon entfernt, zielgerichtet und regelmäßig Blankoverordnungen ausstellen zu können oder zu wollen”, sagt Wiebke Schandelle. Auf der anderen Seite stellte die GETICS-Inhaberin fest, dass Ärzte, die bereits eng mit der Praxis zusammenarbeiten, proaktiv auf das Physioteam zukamen, um sich der Thematik gemeinsam anzunehmen. „Wir haben hier wirklich die Chance, auf Augenhöhe mit den Ärztinnen und Ärzten zu kommunizieren und zu kooperieren, was auch die Anerkennung unserer Arbeit stärken kann”, so die Rehaexpertin weiter.

Fair und budgetneutral im Sinne der Gesundheit
Manche Krankenkassen und Ärzte zeigten sich im Vorfeld der Blankoverordnung durchaus skeptisch: Würden die Physios ihren Patienten wirklich die bestmögliche Therapie zukommen lassen oder stets die kostspieligsten Behandlungsformen auswählen, wenn sie den Rhythmus und die Menge der Behandlungen vorgeben können? „Wenn wir unseren Patienten langfristig mit der bestmöglichen Therapie dienen wollen, vielleicht auch irgendwann bei weiteren Diagnosen, dann müssen wir integer und fair miteinander umgehen”, betont Wiebke Schandelle. „Wir sagen deshalb den Ärzten ganz klar, dass wir nicht einfach das machen, was uns wirtschaftlich am meisten bringt, sondern das, was der Patient wirklich braucht und was ihm am besten hilft. Auch von den Krankenkassen werden wir jetzt streng beobachtet und geprüft. Wenn das in der Versuchsphase schiefläuft, wird uns die Blankoverordnung nach einem Jahr wieder genommen. Dabei ist es doch in unserem Interesse, dass die Möglichkeit irgendwann über die Schulterdiagnosen hinausgeht.”
Gut fürs Budget der Arztpraxen: Blankoverordnung ist immer extrabudgetär
Auch die Sorge, dass Blankoverordnungen das Budget der Arztpraxis belasten könnten, ist unbegründet: Blankoverordnungen sind immer extrabudgetär, belasten also auch mehr als sechs Monate nach einer OP (besonderer Verordnungsbedarf) nicht das individuelle Heilmittelbudget einer Arztpraxis. Sie stellen sogar eine Entlastung dar, denn ein Patient mit Blankoverordnung wird in den nächsten 16 Wochen keinen Platz im Wartezimmer beanspruchen.
Wiebke Schandelle und ihr Team schicken den Ärztinnen und Ärzten zur Halbzeit und am Ende des Behandlungszyklus eine kurze Mitteilung über den Stand der Therapie und die mögliche weitere Vorgehensweise. „Ich bin keine Ärztin und ich möchte keine Diagnosen stellen”, so Schandelle. „Aber da Ärzte eher strukturell denken, kann ich als Physiotherapeutin, die vor allem die Funktionen im Blick hat, mit meiner Expertise wunderbar ergänzen und entscheiden, welche Behandlung für den Patienten bei seiner Diagnose sinnvoll ist und welche nicht. Glücklicherweise machen wir die Erfahrung, dass die meisten Ärztinnen und Ärzte uns das Vertrauen entgegenbringen, dass wir wissen, was wir tun.”

Digitalisierung unterstützt lückenlose Dokumentation
Nun gilt es, auch den Vertrauensvorschuss der Krankenkassen einzulösen. Diese haben das Recht zu prüfen, ob die Therapiepraxen mit der Blankoverordnung verantwortlich umgehen. Die lückenlose Dokumentation spielt hierbei eine zentrale Rolle: Die Praxen müssen detailliert darlegen und begründen, welche Therapie sie in welcher Form mit welchen Erfolgen umgesetzt haben. „Wer da nicht sauber dokumentiert, wird ganz schnell auf die Nase fallen – und dies zu Recht”, warnt Wiebke Schandelle. Eine detaillierte Planung und Dokumentation vor und während eines Behandlungszyklus beruhigt auch die Patientinnen und Patienten, weil sie genau wissen, was sie an Zuzahlungen zu erwarten haben.
Nicht zu unterschätzen ist allerdings der technische Aufwand – vor allem für die Praxisverwaltung. Die Erfahrung zeigt, dass Physiopraxen mit moderner Gerätetechnik und professionellem digitalen Praxismanagement die Vorgaben der Blankoverordnung viel leichter umsetzen als Praxen, die technisch noch hinterherhinken. Digitale Systeme unterstützen eine umfassende und übersichtliche Dokumentation – vorausgesetzt, dass Physios und Verwaltung gut kooperieren. Wiebke Schandelle und ihr Team haben beispielsweise gemeinsam mit ihrem Softwarepartner einen speziellen Anamnesebogen für die Blankoverordnung entwickelt, der in der digitalen Verwaltung hinterlegt ist. Mit einem Klick erhalten nicht nur die Physios, sondern auch Patientinnen und Patienten die Ergebnisse der Bedarfsdiagnostik sowie voraussichtliche Zuzahlungen – immer angepasst an den aktuellen Behandlungsverlauf. Zur Dokumentation gibt es übrigens auch einfache Excel-Listen, die sich auf jedem normalen Laptop nutzen lassen.

Natürlich bieten Dienstleister für digitales Praxismanagement für jede Praxisgröße die passende Software an. Außerdem gibt es jede Menge Schulungsangebote zur Umsetzung der Blankoverordnung in Therapie und Verwaltung. Auch proxoconsult, die Beratungs- und Schulungsabteilung der PHYSIOMED GROUP, organisiert regelmäßig Fortbildungen zum Thema, bei der auch Wiebke Schandelle ihre Erfahrungen und Expertise einbringt.
Entscheidungen zum Wohle der Patienten
Mittlerweile sind die meisten Physiopraxen gut auf die Blankoverordnung eingestellt und haben bereits erste Erfahrungen mit der Abrechnung gemacht. Dabei wurde auch die eine oder andere Abrechnungsgrenze überschritten, was zu einer Leistungskürzung von Seiten der Kassen führt. „Es ist ganz normal, dass in der Einführungsphase alle Beteiligten noch lernen”, betont Wiebke Schandelle. „Auch wir hatten bei der ersten Abrechnung ein paar Behandlungseinheiten zu viel und bekamen dafür einen Abzug von neun Prozent. Wir haben sofort nachjustiert, und mittlerweile läuft das alles schon sehr rund.”
In manchen Fällen entscheiden sich Physiotherapeuten auch ganz bewusst, die Grenze von 18 Behandlungseinheiten pro Blankoverordnung zu überschreiten. „Wenn es für den Patienten dringend notwendig ist, dass wir drei oder vier Einheiten mehr machen, dann tun wir das auch”, erklärt die Praxisinhaberin. „Wir wissen dann eben, dass wir neun Prozent Abzug bekommen und nehmen das in Kauf, denn am Ende zählt das Ergebnis für den Patienten. Aber natürlich achten wir darauf, dass wir normalerweise im Rahmen bleiben.”
Der Weg in die Zukunft der Blankoverordnung
Die kommenden Monate werden zeigen, wie sich die Blankoverordnung in der Physiotherapie bewährt. „Wenn wir klare Erfolge vorweisen können, sauber dokumentieren und integer abrechnen, ist das unsere Chance, dass die Blankoverordnung künftig auch für weitere Diagnosen zugelassen wird, etwa bei Rückenerkrankungen – und auf lange Sicht in allen Bereichen der klassischen Physiotherapie”, betont Wiebke Schandelle. „Das wäre eine deutliche Anerkennung unserer physiotherapeutischen Arbeit und ein Plus für die Patienten, die erfolgreich 16 Wochen lang individuell betreut werden können. Wenn wir das schaffen, sind wir wirklich im Sinne des Patienten auf Augenhöhe angekommen.”
Blankoverordnung in der Praxis
Übrigens: In unserer Ausbildung zum Gesundheitsberater und Patientenmanager gehen wir ganz ausführlich und praxisnah auf das Thema Blankoverordnung ein. Hier finden Sie einen lebendigen Bericht von der Ausbildung.